Slow Travel: die Kunst des langsamen Reisens

von | 22 Dez 2017 | Green Travel

In 79 Stunden mit dem Zug von Köln nach Stockholm und was die Magie des langsamen Reisens ausmacht

 

„Einmal bis Frösthults Kirka“ sage ich dem Busfahrer auf Schwedisch, um ein Ticket zu meinem Zielort zu kaufen. Er verkauft mir ein Ticket, aber hat keine Ahnung, wo ich hin will, geschweige denn ob dies der richtige Bus ist. Ich fahre trotzdem mit. Erst später erfahre ich, dass ich den Namen der Haltestelle einfach nur falsch ausgesprochen habe. Frösthults Kirka ist die Endhaltestelle einer langen Reise. Es sind 79 Stunden und 20 Minuten vergangen, also fast dreieinhalb Tage seit meiner Abreise am Kölner Hauptbahnhof. Ein ziemlich langer Weg, wenn man bedenkt, dass man für die Strecke Köln-Stockholm im Flugzeug gerade mal zwei Stunden braucht. Dann noch mal eine Stunde bis Enköping und zwanzig Minuten mit dem Bus bis zu der entlegenen Bushaltestelle direkt neben der Kirche. Aber kommt es bei einer Reise wirklich darauf an, so schnell wie möglich ans Ziel zu gelangen?

Reise so langsam wie möglich

Wenn es nach Dan Kieran geht, dem Autor des Buches „Slow Travel“, dann kommt es mehr darauf an, wie man reist. Er fährt immer mit dem Zug: „Wann immer es geht, nehme ich die langsame Route, weil sie der Reise und den Orten, die ich besuche, eine viel größere Bedeutung verleiht, als wenn ich einfach über das Meer fliege“, schreibt er in seinem Buch. Und so fährt er auch von London nach Marbella mit dem Zug, braucht über zwölf Stunden, um zu einem Geschäftstermin zu reisen. Wenn man ihn fragt, was die richtige Geschwindigkeit ist, um zu reisen, ist seine Antwort: zu Fuß. Oder per Milchwagen. Der Brite fuhr mit ein paar Freunden in einem elektrischen Milchwagen, der maximal fünfundzwanzig Stundenkilometer fuhr, quer durch England und kam dem Geist des „Slow Travel“ auf diese Weise besonders nah. Wenn man so langsam fährt, dass sogar eine Hummel einen überholen kann, so erzählt Kieran, verändert sich die Wahrnehmung.

 

 

Bild: Rainer Sturm/pixelio

Der Zug rollt an und ich sitze bereits auf meinem Platz am Fenster. Ich blicke hinaus und sehe, wie der Zug den Kölner Bahnhof hinter sich lässt und auf die alte Eisenbahnbrücke rollt. Ich werfe einen Blick auf das Wasser des Rheins, der unter der Brücke durchfließt. Das silberne Glitzern der gerade erwachten Wellen in der Morgensonne lässt mich in eine melancholische Stimmung versinken. Vier Stunden sind es bis Hamburg. Gerade genug Zeit, um zu träumen, zu lesen und die sich verändernde Landschaft aus dem Fenster zu betrachten, denke ich. Bis zu meinem Endziel sind es noch fast achtzig Stunden. Ich bin gespannt auf das Abenteuer, was zwischen meiner Haustür und meinem Zielort liegt. Es ist ein bisschen so, als würde ich eine Zwischenwelt betreten. Die Reise an sich, das, was viele als unnötiges Übel betrachten, um zu ihrem Urlaubsziel zu gelangen, sehe ich als einen Ort der Magie, den nur wenige bewusst betreten.

Als ich im Sommer 2016 anfing, langsamer zu reisen, kannte ich Kieran noch nicht. Es war ein Gefühl, das mich dazu trieb, den Zug zu nehmen, um von Köln nach Stockholm zu gelangen. Ich wollte ein Gespür für die Entfernung gewinnen, die zwischen meiner Heimatstadt und der schwedischen Hauptstadt liegt. Was liegt zwischen den beiden Städten? Welche Orte, welche Landschaften? Wie verläuft die Strecke? Wie lange dauert es, mit dem Zug einmal quer durch Europa zu reisen? Das waren Gedanken und Fragen, die mir durch den Kopf gingen. Die Strecke von Köln bis Stockholm hätte man ohne Unterbrechung auch in etwas mehr als sechzehn Stunden bewältigen können. Aber es ging mir nicht darum, so schnell wie möglich ans Ziel zu gelangen. Es ging mir darum, die Reise zu genießen und dabei ein paar Zwischenstopps einzulegen: Hamburg, Malmö und vielleicht Kopenhagen. So wird eine Reise wieder mehr zu einem Abenteuer und man weiß nie, was einen am nächsten Bahnhof erwartet.

Am Bahnhof in Hamburg angekommen, rücke ich meinen Backpacker auf meinem Rücken zurecht und steige aus. Die erste Etappe ist geschafft! Der Zug hat inzwischen eine ganze Stunde Verspätung und ich musste beim Hostel anrufen, das ich später komme. Die Sonne scheint, als ich das Bahnhofsgebäude an der Wandsbeker Chaussee endlich verlasse und Richtung Hostel laufe. Es sieht nach Regen aus und doch bin ich dankbar für die warmen Sonnenstrahlen, die mich bei meiner Ankunft in goldenes Licht einhüllen. Im Green Haven werde ich herzlich empfangen und mir wird mein Zimmer gezeigt: ein Bauwagen mitten im Hof des Hostels, im maritimen Stil eingerichtet. Über mir höre ich Möwengeschrei. Ich bin froh, dieses Juwel bei meiner Recherche gefunden zu haben: ein veganes Hostel im Hamburger Stadtteil Wandsbek. Gut, dass ich diesen Zwischenstopp bei meiner Reise eingelegt habe. Ich verbringe zwei Tage in der Hansestadt. Einen genauen Plan habe ich für die beiden Tage nicht.

 

Sei dein eigener Reiseführer

Auch bei einer Stadterkundung gibt es als Slow Traveler ein paar Regeln zu beachten. „Lass den Reiseführer zuhause“ und „sei dein eigener Reiseführer“ predigt Kieran. „Mach einen großen Bogen um Sehenswürdigkeiten“. Er nennt diese Orte auch „Niemandsland des Tourismus“, wie er in einem Interview mit der ZEIT erklärte. Er geht sogar noch weiter, wenn es darum geht, ein einzigartiges Erlebnis zu schaffen. Man solle doch zum Beispiel das Telefon und das Portemonnaie im Hotel lassen und nur ein bisschen Bargeld mitnehmen. So hat man auch keine Angst, überfallen zu werden. Und die Uhr soll man zu Hause lassen. Denn Kieran ist überzeugt davon, dass richtige Erlebnisse immer nur zufällig passieren, die Dinge, an die man sich erinnert, seien diejenigen, die man nicht vorhersagen könnte. Die einzige Möglichkeit, um eine Stadt wirklich zu entdecken, wäre es einfach loszulaufen und nicht darüber nachzudenken, wohin: „Man geht mit großen Plänen los, aber es geht nicht darum, das zu sehen, von dem man schon vorher wusste, dass es da ist. Die Dinge, an die man sich erinnern wird, sind diejenigen, die man nicht vorhersehen konnte“ setzt er in seinem Interview mit der Zeit hinzu.

Es fällt mir schwer, diesen Rat zu befolgen, als ich meinem Hostel in Hamburg sitze und mir überlege, was ich mit dem restlichen Tag anfange. Da ein paar Gewitterwolken am Himmel drohen, ziehe ich mich erst mal in meinen Bauwagen zurück und mache meine ersten Reisenotizen und studiere den veganen Stadtführer für Hamburg, der hier überall ausliegt. Einen eigenen Reiseführer für Hamburg habe ich nicht dabei. Ich habe mich allerdings vor meiner Abreise auf ein paar Blogs umgeschaut, um nach besonderen Tipps zu schauen. Auch wenn ich den Begriff Slow Travel zu dieser Zeit noch nicht kannte, waren mir klassische Reiseführer immer etwas suspekt. Sie waren auf eine Art langweilig und eintönig und predigten immer von denselben Orten, die man unbedingt besichtigt haben muss. Irgendwann entwickelte ich dadurch eine Art innerer Protest und versuchte immer mehr, genau diese Orte zu umgehen. Durch meinen Vater hatte ich gelernt, wie schön es ist, die Stadt auf eigene Faust zu erkunden. Er hatte nie einen Reiseführer dabei auf unseren Reisen. Und doch hatte ich immer das Gefühl, als wären wir am richtigen Ort ankommen. Ich lausche dem beruhigenden Klang des prasselnden Regens auf das Blechdach des Bauwagens und nehme mir vor, mir möglichst wenig vorzunehmen.

Die meisten haben bei einer Stadterkundungstour Angst, etwas zu verpassen. Fear-of-Missing-Out (abgekürzt FOMO) wird diese Angst im Englischen auch genannt. Traurig ist, dass man gerade dadurch die einzigartigen Momente, die versteckten Orte und kleinen Alltagswunder erst recht verpasst. Wenn man stur der vorgegebenen Route eines Reiseführers folgt oder auch nur versucht, bestimmte Sehenswürdigkeiten von einer Liste abzuhaken, kann nichts Außergewöhnliches passieren. Man muss die vorgegebenen Pfade verlassen, sich ins Unbekannte wagen. Am Ende kann man dann vielleicht eine einzigartige Geschichte erzählen und nicht eine, die man schon tausendfach gehört hat. Vielleicht reicht es auch, klein anzufangen. Man könnte einfach für ein paar Stunden das Handy ausschalten und ohne Ziel einfach loslaufen. So entdeckt man dann vielleicht eine ganz besondere Kirche, die in keinem Reiseführer steht, ein gemütliches Café, das die beste heiße Schokolade der Stadt verkauft oder den kleinen Laden an der Ecke, indem man ein besonderes Souvenir findet. Wenn man mit ein paar Stunden anfängt, vielleicht sogar am Anfang der Reise, dann bleibt einem meist noch genug Zeit, um die wichtigsten Sehenswürdigkeiten abzuklappern. Aber Achtung: Die beschwingte Lebensart des Slow Travel kann süchtig machen.

Slow Travel ist eine Haltung

Wie Dan Kieran treffend beschreibt, Slow Travel ist nicht nur eine bestimmte Art des Reisens, sondern eine Haltung:„Es kommt nicht auf Ort und Entfernung an. Man kann auch zu Hause bleiben. Es geht allein um die Haltung: Slow Travel ist keine Flucht, nicht escape, sondern inscape. Man schaut in sich hinein. Man denkt über sein Leben nach, wer man ist, ob man die richtigen Sachen macht. Wenn man 24 Stunden alleine Zug fährt, in Gedanken versinkt, aus dem Fenster starrt, dann kann das ganz außergewöhnlich ein.“  Außergewöhnlich können natürlich auch die Begegnungen sein, die man im Zug macht und davon macht Kieran viele. In seinem Buch gibt er sogar Tipps wie man mit Reisenden ins Gespräch kommt. Und das selbst, wenn man schüchtern ist. Er selbst war vor seiner ersten Zugreise mehr als schüchtern, er litt damals unter Agoraphobie. Er konnte dadurch jahrelang nicht aus dem Haus gehen. Es war ein Problem für ihn, in den Bus oder die Bahn zu steigen. Doch die erste Zugfahrt von London nach Polen hat ihn gewissermaßen geheilt. Vielleicht gerade dadurch, dass er ins kalte Wasser springen musste und nicht alles nach Plan lief.

Die Reise geht weiter. Nach meinem kurzen Aufenthalt in Hamburg fahre ich weiter mit dem Zug nach Malmö über Kopenhagen. Die Zugfahrt mit dem Eurocity nach Kopenhagen dauert etwa fünf Stunden und führt über Lübeck, Puttgarden, Rødby und Roskilde. In Lübeck steigen mehrere Reisende zu und der freie Platz neben mir ist plötzlich besetzt. Damals kannte ich Kierans Tipps noch nicht, wie man mit einem Reisenden am besten ins Gespräch kommt. Der junge Mann neben mir und ich, wir schweigen uns daher erst mal eine ganze Weile an. Doch kurz vor Puttgarden bricht das Eis, als der Schaffner durch den Lautsprecher verlauten lässt, dass wir in Kürze den Zug verlassen müssen, da wir auf eine Fähre fahren. Wir schauen uns verwirrt an. Hat er wirklich gesagt, dass der komplette Zug auf eine Fähre auffahren wird? Ja, aus Sicherheitsgründen müssen die Reisenden den Zug während der Überfahrt verlassen. Durch ein gigantisches Parkhaus gelangt man oben ans Deck und ich genieße die Aussicht auf das Meer und ich spüre, das dies einer dieser Augenblicke ist, mit denen ich nicht gerechnet habe. Später erfahre ich, dass John aus Chicago kommt und zu Besuch in Europa ist. Er ist Komponist und schreibt hauptsächlich moderne Musik. Er fährt ebenfalls nach Malmö, dort besucht er eine Freundin.

 

Das Mikroabenteuer des Alltags

Ganz im Stil des Slow Traveling sind auch sogenannte Mikroabenteuer. Der Begriff wurde unter anderem von dem Briten Alastair Humphrey geprägt. Gemeint ist beispielsweise unter den Sternen zu schlafen, über dem Feuer zu kochen, sich einen Fluss hinuntertreiben zu lassen oder einfach loszulaufen in irgendeine Richtung bis zum Sonnenuntergang. Dan Kieran würde Letzteres Anfängern des langsamen Reisens empfehlen: Trete vor die eigene Haustür mit einem Rucksack mit etwas Proviant bepackt und bereise zu Fuß die eigene Stadt, die eigene Umgebung. Dies ist nicht nur eine Möglichkeit, aus der gewohnten Routine auszubrechen, sondern zudem eine Möglichkeit, mit den wachen Augen eines Kindes Orte in der eigenen Umgebung zu entdecken, die einem vorher nie aufgefallen sind, weil man meist in Eile an ihnen vorbei gerannt oder gefahren ist. Wenn man nicht mehr kann, nimmt man sich einfach ein Taxi oder ruft einen Freund an, der einen dann abholt. Behandle dein eigenes Zuhause mit der Geisteshaltung eines Reisenden, empfiehlt Kieran.

 

 

Bild: Albrecht E. Arnold/ Pixelio

Auch in Malmö habe ich ein Hostel gebucht. Möglichst nachhaltig und möglichst günstig sollte es sein. Diesmal werde ich nur die Nacht dort verbringen und nicht viel Zeit haben, die Gegend zu erkunden. Am nächsten Tag, in aller Frühe geht es dann weiter nach Stockholm und Enköping, wo mich das nächste Abenteuer erwartet. Drei Wochen Freiwilligenarbeit auf einer ökologischen Farm. Am Bahnhof in Malmö steige ich in einen Bus ein. Der Fahrer erklärt mir freundlich, wo ich aussteigen muss. Da er dort ebenfalls aussteigt aufgrund eines Fahrerwechsels, zeigt er mir persönlich, wie ich am besten zum Hostel gelange. Ich fühle mich euphorisch. Es ist schon dunkel und die menschenleeren Straßen sind nur mit ein paar Straßenlaternen erleuchtet. Die Stadt gefällt mir irgendwie und ich bin etwas traurig, dass ich nicht die Möglichkeit habe, mehr Zeit hier zu verbringen. Als ich am Hostel ankomme, werde ich auch hier herzlich empfangen. Das STF City Hostel Malmö ist mit dem Green Key ausgezeichnet, welches für das umweltfreundliche Engagement der Unterkunft steht. In einem Schlafsaal untergebracht, lerne ich auch hier mehrere Reisende kennen, bevor ich müde und erwartungsvoll dem nächsten Abenteuer entgegenblickend, die Augen schließe.

 

Slow Travel ist eine besondere Art des Reisens, die ich zukünftig gerne mehr auf meinen Reisen beherzigen möchte. Dass ich mehr Zug fahren möchte, liegt natürlich auch daran, dass dies eine der umweltfreundlichsten Möglichkeiten ist, um zu reisen. Wen die Dauer einer Zugfahrt abschreckt, sollte an die Vorteile einer solchen Reise denken. Man betritt eine andere Welt und wird zumeist reicher belohnt als jeder, der mit dem Flugzeug reist. Ich nehme mir vor, zumindest innerhalb von Europa möglichst nur den Zug zu nehmen. Ich nehme mir vor, bei meiner nächsten Städtereise den Reiseführer, auch den selbst geschriebenen, mal in der Tasche zu lassen und die Umgebung auf andere Art zu erkunden. Ich nehme mir vor, mal aus der Haustür zu treten und loszulaufen. Und ich nehme mir vor, die Welt wieder mit den Augen eines Kindes zu betrachten, das alles zum ersten Mal sieht und die Magie der Welt noch voller Begeisterung aufnimmt. Ich freue mich auf das Ungeplante und die vielen Mikroabenteuer des Alltags. Ich freue mich auf neue Bekanntschaften und andere Slow Traveller auf meinen Reisen.

Aus meinem Blog „travelingreen – der grüne Reiseblog & Reiseführer“ (2017-2021).

Quellen:

Kieran, Dan: Slow Travel, die Kunst des Reisens. Wilhelm Heyne Verlag. München (2014).

Breyer, Ariane: „Autor Dan Kieran: Wir versuchen, Reiseerfahrung in ein Urlaubsformat zu pressen“. In: ZEIT ONLINE (Reisen). http://www.zeit.de/reisen/2013-05/interview-dan-kieran-slow-travel (Zuletzt abgerufen am 22.12.2017)

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